Varanasi - die Stadt Shiva´s

 

Ich habe schon Geschichten über Indien erzählt, aber wie soll ich eine von Varanasi schreiben? Wie von einer Stadt erzählen,  die wie ein schwarzes Loch im Universum alles rund um sich, einfach alles was es gibt, aufzusaugen scheint. In einer Dichtheit, die meine Wahrnehmungsfilter völlig übersteigt. Ich kann schwer erzählen, was ich sehe – es ist einfach zu viel. Ich kann auch kaum beschreiben, was ich fühle, da es im nächsten Moment bereits anders sein kann. Immer wird es nur ein winziger Ausschnitt dessen bleiben, was Varanasi, die Stadt der Toten, tatsächlich ist. Reich und Arm, Schön und Hässlich, Kommerz und tiefer Glaube, all das liegt so nah beieinander, dass ich manchmal kurz die Augen schließen muss, um dem eben Erlebten Platz zu geben, Wie eine unaufhörliche Welle an Eindrücken rollt Varanasi auf mich zu, spült mich an meine Grenzen, zieht mich zurück in den Ozean des Unfassbaren und lässt mich wieder stranden, in einem Gefühl der Dankbarkeit, daran teilhaben zu dürfen. Zumindest für einen Moment lang.

 

Ich spaziere entlang der Ghats, es stinkt an manchen Stellen so unerträglich nach Urin, dass ich nicht weiteratmen würde, wenn ich die Wahl hätte. Der Anblick von Menschen, deren ganzes Hab und Gut aus zwei Decken besteht, fordert mich zutiefst. Kinderlachen unterbricht meine Gedanken. Sie lassen schwarze Papierdrachen steigen, hoch hinauf wirbeln sie und machen den  Vögeln Konkurrenz.  Als ob sie damit all ihre Träume ins Universum tragen könnten, in der Hoffnung das Schicksal bringt ihnen die Erfüllung zurück. Letzteres empfinden all jene, die ein Bad im heiligen Ganges nehmen. Voller Inbrunst zelebrieren sie ihre Waschungen und sind ihrer Erlösung nun ein Stück näher gekommen. Jeden Abend bei der Puja um 18.00 legen sich die Gesänge der Mönche über die Stadt. Eine Klangwolke hüllt ganz Varanasi ein und scheint alles Schlechte des Tages reinzuwaschen. Gesichter voller Glückseligkeit, und ich wünschte, jene mit nur einer Decke, könnten das auch so empfinden. Der Tod und das Leben liegen so dicht beieinander, wie sonst wohl nirgendwo auf dieser Welt. Die Feuer an den Verbrennungsplätzen lodern 24 Stunden am Tag, ohne Unterlass wird ein Körper nach dem anderen Mutter Ganga übergeben. Das ewigste Feuer der Erde brennt hier angeblich bereits seit 3500 Jahren. Menschen bringen ihre dem Tod geweihten Angehörigen in die Stad und hoffen, dass sie innerhalb von zwei Wochen tatsächlich versterben. So lange dürfen sie im Haus des Todes „einchecken“ und eines der simplen Eisenbetten beziehen. Es gibt dort keine Versorgung, rein gar nichts, sie dürfen nur  warten. Wenn es nicht klappt, müssen sie wieder gehen und einen anderen Platz zum Warten suchen. Für die meisten ist der Aufwand enorm und sie wünschen sich nichts sehnlicher, als hier sterben zu dürfen.

 

Um die Ecke steht ein kleines Team von Kameraleuten, die wunderschöne Frauen in der neuersten Sarimode vor altem Gemäuer fotografiert. Welch ein Kontrast. Hier dem Tod geweiht, dort das pralle Leben. Meine Sinne brauchen oft eine Pause, können das einfach nicht verarbeiten. Der Blick um die Ecke macht mir klar, dass ich das Nachsehen habe, formatfüllend ist die Gasse für den Moment für eine riesige Kuh bestimmt. Na gut, ich nehme die nächste.  Unser Zimmer ist überaus primitiv, aber der Blick vom Balkon legt uns die Stadt zu Füßen.  Am Balkon unter mir schläft ein junger Mann in eine Decke gehüllt auf dem Beton - heute genauso wie auch gestern schon. Ich komme irgendwie nicht zur Ruhe. Und doch, die vier Tage hier in Varanasi zählen zu den intensivsten Erlebnissen meines gesamten Reiselebens. Die Stadt Shivas ist kein Ort der Zerstörung, trotz allem vielmehr ein Ort des Friedens und der Erlösung.  Fassen kann ich das alles nicht, es ist zu groß, zu dicht, zu anders als alles andere, was diese Welt zu bieten hat.